Gebrauchsmuster und »any hardware«
Ein Widerspruch
27. Jänner 2023
Seit 2020 (4 Ob 119/20h) befürwortet der österreichische Oberste Gerichtshof die Verwendung des »any hardware«-Ansatzes bei Gebrauchsmustern. Dieser Ansatz führt dazu, dass Technizität in zwei Schritten geprüft werden muss: der erste bei Anmeldung, der zweite bei Prüfung der erfinderischen Tätigkeit. Letztere findet bei Gebrauchsmustern, wenn überhaupt, erst nach Registrierung des Schutzrechts, z. B. in einem Nichtigkeitsverfahren, statt. Eine solche Aufspaltung widerspricht dem Gebrauchsmustergesetz. Technizität ist Teil der Gesetzmäßigkeit. Sie muss im Anmeldeverfahren geprüft werden. Im vorliegenden Artikel wird dieser Widerspruch analysiert.
Quelle: http://pamt.at/anyhw – ASCII | HTML | PDF
for conformance
Die Entscheidung 4 Ob 119/20h4 Ob 119/20h, »Verfahren und Kontrollsystem zur Einhaltung von Sicherheitsbestimmungen« (OGH, 31. August 2020), http://pamt.at/695z.
stellt einen Paradigmenwechsel bei der Prüfung der Technizität von Anmeldungen dar. Um ihre Tragweite darzulegen, wird sie mit der früheren höchstinstanzlichen Entscheidung OBGM 1/13OBGM 1/13, »Verfahren zum Lösen gewöhnlicher Differentialgleichungen« (OPMS, 11. Dezember 2013), http://pamt.at/9u.
verglichen. Beide Entscheidungen betreffen Gebrauchsmuster und ihre sachlichen Grundlagen, z. B. die relevanten Entscheidungen der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, sind identisch.Betonungen in Zitaten hinzugefügt
§ 1 Gebrauchsmustergesetzhttp://pamt.at/gmg1
gibt die Voraussetzungen an, unter denen eine Erfindung als Gebrauchsmuster zu schützen ist: Antragstellung, Technizität, Neuheit, erfinderischer Schritt und gewerbliche Anwendbarkeit. § 18 Abs 1 und 2 Gebrauchsmustergesetzhttp://pamt.at/gmg18
geben an, wann diese Voraussetzungen zu prüfen sind: Antragstellung und Technizität vor der Veröffentlichung und Registrierung, Neuheit, erfinderischer Schritt und gewerbliche Anwendbarkeit danach. Daraus folgt, dass keine Veröffentlichung und Registrierung ohne vollständige Technizitätsprüfung stattfinden darf. Auch die Rechtsprechung ist in diesem Punkt eindeutigOBGM 1/13: »Auch die Antragstellerin bestreitet nicht, dass bereits im Anmeldeverfahren der Frage nach der technischen Natur nachzugehen ist (vergleiche Goebel in Benkard, PatG10 § 8 GebrMG Rz 5 mwN).«; 4 Ob 119/20h: »Das aus der Wendung ›auf allen Gebieten der Technik‹ in § 1 Abs 1 GMG ableitbare Technizitätserfordernis für gebrauchsmusterfähige Erfindungen[]«
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Der Oberste Patent- und Markensenat hat in seiner letzten Entscheidung OBGM 1/13 Ende 2013, noch bevor ihre Agenden Anfang 2014 vom Obersten Gerichtshof übernommen wurden, die bis dahin übliche Vorgangsweise bestätigtOBGM 1/13, »Rechtliche Beurteilung«, Punkt 5.6
: »Die von der Antragstellerin für das Gesetzmäßigkeitsprüfungsverfahren nach § 18 GMG gewünschte rein formale Betrachtung würde den vom Gesetzgeber in § 1 Abs 3 GMG geregelten Ausschluss bestimmter Tatbestände vom Gebrauchsmusterschutz konterkarieren. Formal könnte dann nämlich jedes Element der Ausschlussliste, also zB jede Entdeckung, jede mathematische Methode, jede ästhetische Formschöpfung, jedes Computerprogramm und jede Wiedergabe von Information mit technischen Merkmalen paraphrasiert und dadurch gebrauchsmustertauglich gemacht werden. Wollte man beispielsweise die ästhetische Formschöpfung einer Glasflasche (zB die bekannte Flasche von Coca Cola) mittels Gebrauchsmuster beanspruchen, so würde die Formulierung ›industriell gefertigte Glasflasche, dadurch gekennzeichnet dass sie mittels eines technischen Verfahrens erzeugt wird und folgendes Aussehen hat…‹ formal einen Anspruch generieren, der technische und nichttechnische Merkmale enthält, wobei die technischen Merkmale offensichtlich bekannt sind.« In dieser Entscheidung wurde die mangelnde Technizität folgender Ansprüche festgestellt: 10. Vorrichtung zum Lösen gewöhnlicher Differentialgleichungen (LgD) [] 11. Computer zum LgD [] 13. Computer-Netzwerk zum LgD []
Informationen zum »any hardware«-Ansatz können ChandlerWilliam Chandler, »Patentierbarkeit computerimplementierter Erfindungen (CII): Sachlage und Entwicklungen«, Zusatzpublikation – Amtsblatt EPA, Nr. 5 (2015): 73–79, http://pamt.at/hgne.
entnommen werden. Wesentlich ist, dass das Europäische Patentübereinkommen und damit das Europäische Patentamt keine Gebrauchsmuster kennt. Das Europäische Patentamt hat also bei der Entwicklung des »any hardware«-Ansatzes nicht berücksichtigt, wie sich dieser auf ein Schutzrecht, das vor und ohne Prüfung auf Neuheit und Erfindungseigenschaft veröffentlicht und registriert wird, auswirkt. Chandler hält in seiner Abhandlung festChandler, Seite 78, vorletzter Absatz
: »Wenn das Urteil über die Feinheiten des technischen Charakters der Erfindung auf den Schritt der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit verlagert wird, hat dies den Vorteil, dass kein gesonderter K.O.-Test durchgeführt werden muss, der potenziell zur sofortigen Vernichtung eines Anspruchs führt oder alternativ eine langwierige zusätzliche Analyse erfordert.«»Stattdessen wird der ausgeschlossene Gegenstand Hand in Hand mit der Formulierung der technischen Aufgabe beurteilt, deren Lösung dann im Hinblick auf die erfinderische Tätigkeit geprüft wird.«
Für ein österreichisches Gebrauchsmuster bedeutet die Verschiebung der Technizitätsprüfung zur Prüfung der erfinderischen Tätigkeit hin, dass Technizität – notwendig für die Gesetzmäßigkeit – im Anmeldeverfahren nur mehr unvollständig geprüft wird. Eine solche unvollständige Prüfung ist nach dem Gebrauchsmustergesetz unzulässig. Nach dem »any hardware«-Ansatz würde nichts gegen die Registrierung und Veröffentlichung eines Gebrauchsmusters mit den oben genannten Ansprüchen 10, 11 und 13 sprechen.
Gebrauchsmusteranmeldungen, in denen Schutz für Computer begehrt wird, sind nunmehr zu registrieren. Der Gegenstand der Anmeldung muss dabei nur die allgemeinen Gesetzmäßigkeitsprüfungen bestehen, z. B. hinreichend offenbart sein. Es ist nicht mehr von Belang, wofür der Computer eingerichtetz. B. programmiert
istDas Schutzbegehren braucht, außer dem Computer, nichts Technisches zu umfassen. Insbesondere darf es ansonsten ausschließlich aus Merkmalen bestehen, die im Gebrauchsmustergesetz explizit von einem Schutz ausgenommen sind.
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Weiter können »[] jene Merkmale der Ansprüche zum erfinderischen Schritt der Anspruchsgegenstände nicht beitragen [], die zum technischen Charakter der Erfindung keinen Beitrag leisten.«4 Ob 119/20h, »Rechtliche Beurteilung«, Punkt 6.2
Das ist für die Kategorisierung im Recherchenbericht wichtig. So erhält eine Entgegenhaltung bereits dann die Kategorie X, wenn von ihr nur einige Merkmale eines Anspruchs nahe gelegt werden, nämlich all jene, die zum technischen Charakter beitragen. Letztere können lediglich aus einem Computer bestehen. Sie brauchen mit der eigentlich erfinderischen Idee, z. B. der mathematischen Methode, nichts zu tun zu haben.
So ist eine Gebrauchsmusteranmeldung, in der Schutz für einen Computer begehrt wird, der zur Durchführung eines Verfahrens zum Integrieren von Funktionen eingerichtet ist, zu registrieren. Einem vor dem Prioritätstag der Anmeldung veröffentlichten Dokument, in dem ein Computer offenbart wird, der zum Verwalten von Büchern eingerichtet ist, würde die Kategorie X zugewiesen, da die Anmeldung und das Dokument die gleichen technischen Anteile aufweisen. Recherchenberichte von Gebrauchsmustern sind unter Berücksichtigung dieser Folgen zu interpretieren.
Der Oberste Gerichtshof übernahm 2014 mit dem Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012Heinz Fischer und Werner Faymann, »BGBl I Nr. 51/2012 – Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012«, 5. Juni 2012, http://pamt.at/x9; Wikipedia, »Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012«, 16. Jänner 2016, http://pamt.at/9y.
die Agenden des Obersten Patent- und Markensenats. Es ist bemerkenswert, dass er es in 4 Ob 119/20h bevorzugt, eine Kette von Argumenten zu benutzen, statt das Gebrauchsmustergesetz direkt anzuwenden: (1) vom Gebrauchsmustergesetz über das Patentgesetz (2) zur österreichischen patentrechtlichen Judikatur und (3) von dort weiter zur Judikatur des Europäischen Patentamts4 Ob 119/20h, »Rechtliche Beurteilung«, Punkt 2: »[] Anderes gilt jedoch für die Technizität (vgl RIS-Justiz RS0130899; OBGM 1/13; Weiser, PatG GMG3 734 f). Das aus der Wendung ›auf allen Gebieten der Technik‹ in § 1 Abs 1 GMG ableitbare Technizitätserfordernis für gebrauchsmusterfähige Erfindungen deckt sich – aufgrund der gleichlautenden Formulierung in § 1 Abs 1 PatG – mit jenem für patentfähige Erfindungen. Aus diesem Grund kann zur Beurteilung der Technizität von gebrauchsmusterfähigen Erfindungen die einschlägige patentrechtliche Judikatur herangezogen werden. Zur Sicherstellung einer harmonisierten Auslegung der gebrauchsmusterrechtlichen Schutzanforderungen nach den nationalen Rechtsvorschriften im Lichte des Europäischen Patentübereinkommens kann dabei auch auf die Rechtsprechung des Europäischen Patentamts zurückgegriffen werden (4 Ob 228/18k).«
. Dabei bedeutet die Bindung Österreichs an das Europäische Patentübereinkommen nicht, dass die gesamte Judikatur des Europäischen Patentamts zu übernehmen ist, insbesondere dann nicht, wenn sie nationalen Normen widerspricht.Atilla Pramhas, »Grenzen der Harmonisierung – EPÜ oder EPA?«, 2022, http://pamt.at/harmon.
Es ist wünschenswert, dass der Instanzenzug öfter voll ausgeschöpft wird. Nur so können systemimmanente Widersprüche und Fehlauffassungen weithin sichtbar gemacht werden, was den ersten Schritt zur Verbesserung der Situation darstellt.
Mit der gegenständlichen Entscheidung des Obersten Gerichtshofs ist es vorhersehbarer und generell einfacher geworden, nicht rechtsbeständige »computer-implementierte Erfindungen« mit einem österreichischen Gebrauchsmuster zu schützen. Seit der übernahme der Patentrechtsagenden 2014 gab es zwei einschlägige Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs: die hier behandelte 4 Ob 119/20h und vier Jahre davor, 2016, die Entscheidung 4 Ob 94/16a4 Ob 94/16a, »Verfahren zum Lesen und Schreiben von Daten« (OGH, 25. August 2016), http://pamt.at/1wh3.
. Letztere brachte den Rechtssatz RS0130900 hervor: »Zur Bejahung der Technizität reicht es allein nicht aus, dass ein Verfahren bestimmungsgemäß den Einsatz eines Computers erfordert, sind doch Programme für Datenverarbeitungsanlagen per se von der Patentierbarkeit ausgeschlossen (§ 1 Abs 3 Z 5 PatG). Das Programm muss daher einen ›weiteren technischen Effekt‹ aufweisen. Die Abgrenzungslinie zwischen nicht-schützbaren und schützbaren Computerprogrammen wird anhand ihrer Technizität gezogen, indem ein technischer Beitrag auf einem nicht vom Patentschutz ausgeschlossenen Bereich gefordert wird.« Auf diesen Rechtssatz und ihren Zusammenhang mit dem überholten Beitragskriterium der TechnizitätAtilla Pramhas, »Technizität von Computerprogrammen«, 2022, http://pamt.at/tech/.
einzugehen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Die Qualität der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs hat jedenfalls Luft nach oben.