Gebrauchsmuster und "any hardware" Ein Widerspruch Atilla Pramhas (a@pamt.at) 31. Juli 2023 Seit 2020 (4 Ob 119/20h) befuerwortet der oesterreichische Oberste Gerichtshof die Verwendung des "any hardware"-Ansatzes bei Gebrauchsmustern. Dieser Ansatz fuehrt dazu, dass Technizitaet in zwei Schritten geprueft werden muss: der erste bei Anmeldung, der zweite bei Pruefung der erfinderischen Taetigkeit. Letztere findet bei Gebrauchsmustern, wenn ueberhaupt, erst nach Registrierung des Schutzrechts, z. B. in einem Nichtigkeitsverfahren, statt. Eine solche Aufspaltung widerspricht dem Gebrauchsmustergesetz. Technizitaet ist Teil der Gesetzmaessigkeit. Sie muss im Anmeldeverfahren geprueft werden. Im vorliegenden Artikel wird dieser Widerspruch analysiert. Quelle: http://pamt.at/anyhw - ASCII | HTML | PDF Die Entscheidung 4 Ob 119/20h[1] stellt einen Paradigmenwechsel bei der Pruefung der Technizitaet von Anmeldungen dar. Um ihre Tragweite darzulegen, wird sie mit der frueheren hoechstinstanzlichen Entscheidung OBGM 1/13[2] verglichen. Beide Entscheidungen betreffen Gebrauchsmuster und ihre sachlichen Grundlagen, z. B. die relevanten Entscheidungen der Beschwerdekammern des Europaeischen Patentamts, sind identisch.[3] Paragraf 1 Gebrauchsmustergesetz[4] gibt die Voraussetzungen an, unter denen eine Erfindung als Gebrauchsmuster zu schuetzen ist: Antragstellung, Technizitaet, Neuheit, erfinderischer Schritt und gewerbliche Anwendbarkeit. Paragraf 18 Abs 1 und 2 Gebrauchsmustergesetz[5] geben an, wann diese Voraussetzungen zu pruefen sind: Antragstellung und Technizitaet vor der Veroeffentlichung und Registrierung, Neuheit, erfinderischer Schritt und gewerbliche Anwendbarkeit danach. Daraus folgt, dass keine Veroeffentlichung und Registrierung ohne vollstaendige Technizitaetspruefung stattfinden darf. Auch die Rechtsprechung ist in diesem Punkt eindeutig[6]. Der Oberste Patent- und Markensenat hat in seiner letzten Entscheidung OBGM 1/13 Ende 2013, noch bevor ihre Agenden Anfang 2014 vom Obersten Gerichtshof uebernommen wurden, die bis dahin uebliche Vorgangsweise bestaetigt[7]: "Die von der Antragstellerin fuer das Gesetzmaessigkeitspruefungsverfahren nach Paragraf 18 GMG gewuenschte rein formale Betrachtung wuerde den vom Gesetzgeber in Paragraf 1 Abs 3 GMG geregelten Ausschluss bestimmter Tatbestaende vom Gebrauchsmusterschutz konterkarieren. Formal koennte dann naemlich jedes Element der Ausschlussliste, also zB jede Entdeckung, jede mathematische Methode, jede aesthetische Formschoepfung, jedes Computerprogramm und jede Wiedergabe von Information mit technischen Merkmalen paraphrasiert und dadurch gebrauchsmustertauglich gemacht werden. Wollte man beispielsweise die aesthetische Formschoepfung einer Glasflasche (zB die bekannte Flasche von Coca Cola) mittels Gebrauchsmuster beanspruchen, so wuerde die Formulierung 'industriell gefertigte Glasflasche, dadurch gekennzeichnet dass sie mittels eines technischen Verfahrens erzeugt wird und folgendes Aussehen hat...' formal einen Anspruch generieren, der technische und nichttechnische Merkmale enthaelt, wobei die technischen Merkmale offensichtlich bekannt sind." In dieser Entscheidung wurde die mangelnde Technizitaet folgender Ansprueche festgestellt: 10. Vorrichtung zum Loesen gewoehnlicher Differentialgleichungen (LgD) [] 11. Computer zum LgD [] 13. Computer-Netzwerk zum LgD [] Informationen zum "any hardware"-Ansatz koennen Chandler[8] entnommen werden. Wesentlich ist, dass das Europaeische Patentuebereinkommen und damit das Europaeische Patentamt keine Gebrauchsmuster kennt. Das Europaeische Patentamt hat also bei der Entwicklung des "any hardware"-Ansatzes nicht beruecksichtigt, wie sich dieser auf ein Schutzrecht, das vor und ohne Pruefung auf Neuheit und Erfindungseigenschaft veroeffentlicht und registriert wird, auswirkt. Chandler haelt in seiner Abhandlung fest[9]: "Wenn das Urteil ueber die Feinheiten des technischen Charakters der Erfindung auf den Schritt der Pruefung der erfinderischen Taetigkeit verlagert wird, hat dies den Vorteil, dass kein gesonderter K.O.-Test durchgefuehrt werden muss, der potenziell zur sofortigen Vernichtung eines Anspruchs fuehrt oder alternativ eine langwierige zusaetzliche Analyse erfordert."[10] Fuer ein oesterreichisches Gebrauchsmuster bedeutet die Verschiebung der Technizitaetspruefung zur Pruefung der erfinderischen Taetigkeit hin, dass Technizitaet - notwendig fuer die Gesetzmaessigkeit - im Anmeldeverfahren nur mehr unvollstaendig geprueft wird. Eine solche unvollstaendige Pruefung ist nach dem Gebrauchsmustergesetz unzulaessig. Nach dem "any hardware"-Ansatz wuerde nichts gegen die Registrierung und Veroeffentlichung eines Gebrauchsmusters mit den oben genannten Anspruechen 10, 11 und 13 sprechen. Gebrauchsmusteranmeldungen, in denen Schutz fuer Computer begehrt wird, sind nunmehr zu registrieren. Der Gegenstand der Anmeldung muss dabei nur die allgemeinen Gesetzmaessigkeitspruefungen bestehen, z. B. hinreichend offenbart sein. Es ist nicht mehr von Belang, wofuer der Computer eingerichtet[11] ist[12]. Weiter koennen "[] jene Merkmale der Ansprueche zum erfinderischen Schritt der Anspruchsgegenstaende nicht beitragen [], die zum technischen Charakter der Erfindung keinen Beitrag leisten."[13] Das ist fuer die Kategorisierung im Recherchenbericht wichtig. So erhaelt eine Entgegenhaltung bereits dann die Kategorie X, wenn von ihr nur einige Merkmale eines Anspruchs nahe gelegt werden, naemlich all jene, die zum technischen Charakter beitragen. Letztere koennen lediglich aus einem Computer bestehen. Sie brauchen mit der eigentlich erfinderischen Idee, z. B. der mathematischen Methode, nichts zu tun zu haben. So ist eine Gebrauchsmusteranmeldung, in der Schutz fuer einen Computer begehrt wird, der zur Durchfuehrung eines Verfahrens zum Integrieren von Funktionen eingerichtet ist, zu registrieren. Einem vor dem Prioritaetstag der Anmeldung veroeffentlichten Dokument, in dem ein Computer offenbart wird, der zum Verwalten von Buechern eingerichtet ist, wuerde die Kategorie X zugewiesen, da die Anmeldung und das Dokument die gleichen technischen Anteile aufweisen. Recherchenberichte von Gebrauchsmustern sind unter Beruecksichtigung dieser Folgen zu interpretieren. Der Oberste Gerichtshof uebernahm 2014 mit dem Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012[14] die Agenden des Obersten Patent- und Markensenats. Es ist bemerkenswert, dass er es in 4 Ob 119/20h bevorzugt, eine Kette von Argumenten zu benutzen, statt das Gebrauchsmustergesetz direkt anzuwenden: (1) vom Gebrauchsmustergesetz ueber das Patentgesetz (2) zur oesterreichischen patentrechtlichen Judikatur und (3) von dort weiter zur Judikatur des Europaeischen Patentamts[15]. Dabei bedeutet die Bindung OEsterreichs an das Europaeische Patentuebereinkommen nicht, dass die gesamte Judikatur des Europaeischen Patentamts zu uebernehmen ist, insbesondere dann nicht, wenn sie nationalen Normen widerspricht. Es ist wuenschenswert, dass der Instanzenzug oefter voll ausgeschoepft wird. Nur so koennen systemimmanente Widersprueche und Fehlauffassungen weithin sichtbar gemacht werden, was den ersten Schritt zur Verbesserung der Situation darstellt. Mit der gegenstaendlichen Entscheidung des Obersten Gerichtshofs ist es vorhersehbarer und generell einfacher geworden, nicht rechtsbestaendige "computer-implementierte Erfindungen" mit einem oesterreichischen Gebrauchsmuster zu schuetzen. Seit der uebernahme der Patentrechtsagenden 2014 gab es zwei einschlaegige Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs: die hier behandelte 4 Ob 119/20h und vier Jahre davor, 2016, die Entscheidung 4 Ob 94/16a[16]. Letztere brachte den Rechtssatz RS0130900 hervor: "Zur Bejahung der Technizitaet reicht es allein nicht aus, dass ein Verfahren bestimmungsgemaess den Einsatz eines Computers erfordert, sind doch Programme fuer Datenverarbeitungsanlagen per se von der Patentierbarkeit ausgeschlossen (Paragraf 1 Abs 3 Z 5 PatG). Das Programm muss daher einen 'weiteren technischen Effekt' aufweisen. Die Abgrenzungslinie zwischen nicht-schuetzbaren und schuetzbaren Computerprogrammen wird anhand ihrer Technizitaet gezogen, indem ein technischer Beitrag auf einem nicht vom Patentschutz ausgeschlossenen Bereich gefordert wird." Auf diesen Rechtssatz und ihren Zusammenhang mit dem ueberholten Beitragskriterium der Technizitaet einzugehen, wuerde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Die Qualitaet der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs hat jedenfalls Luft nach oben. [1] 4 Ob 119/20h, "Verfahren und Kontrollsystem zur Einhaltung von Sicherheitsbestimmungen" (OGH, 31. August 2020), http://pamt.at/695z. [2] OBGM 1/13, "Verfahren zum Loesen gewoehnlicher Differentialgleichungen" (OPMS, 11. Dezember 2013), http://pamt.at/9u. [3] Betonungen in Zitaten hinzugefuegt [4] http://pamt.at/gmg1 [5] http://pamt.at/gmg18 [6] OBGM 1/13: "Auch die Antragstellerin bestreitet nicht, dass bereits im Anmeldeverfahren der Frage nach der technischen Natur nachzugehen ist (vergleiche Goebel in Benkard, PatG10 Paragraf 8 GebrMG Rz 5 mwN)."; 4 Ob 119/20h: "Das aus der Wendung 'auf allen Gebieten der Technik' in Paragraf 1 Abs 1 GMG ableitbare Technizitaetserfordernis fuer gebrauchsmusterfaehige Erfindungen[]" [7] OBGM 1/13, "Rechtliche Beurteilung", Punkt 5.6 [8] William Chandler, "Patentierbarkeit computerimplementierter Erfindungen (CII): Sachlage und Entwicklungen", Zusatzpublikation - Amtsblatt EPA, Nr. 5 (2015): 73-79, http://pamt.at/hgne. [9] Chandler, Seite 78, vorletzter Absatz [10] "Stattdessen wird der ausgeschlossene Gegenstand Hand in Hand mit der Formulierung der technischen Aufgabe beurteilt, deren Loesung dann im Hinblick auf die erfinderische Taetigkeit geprueft wird." [11] z. B. programmiert [12] Das Schutzbegehren braucht, ausser dem Computer, nichts Technisches zu umfassen. Insbesondere darf es ansonsten ausschliesslich aus Merkmalen bestehen, die im Gebrauchsmustergesetz explizit von einem Schutz ausgenommen sind. [13] 4 Ob 119/20h, "Rechtliche Beurteilung", Punkt 6.2 [14] Heinz Fischer und Werner Faymann, "BGBl I Nr. 51/2012 - Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012", 5. Juni 2012, http://pamt.at/x9; Wikipedia, "Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012", 16. Jaenner 2016, http://pamt.at/9y. [15] 4 Ob 119/20h, "Rechtliche Beurteilung", Punkt 2: "[] Anderes gilt jedoch fuer die Technizitaet (vgl RIS-Justiz RS0130899; OBGM 1/13; Weiser, PatG GMG3 734 f). Das aus der Wendung 'auf allen Gebieten der Technik' in Paragraf 1 Abs 1 GMG ableitbare Technizitaetserfordernis fuer gebrauchsmusterfaehige Erfindungen deckt sich - aufgrund der gleichlautenden Formulierung in Paragraf 1 Abs 1 PatG - mit jenem fuer patentfaehige Erfindungen. Aus diesem Grund kann zur Beurteilung der Technizitaet von gebrauchsmusterfaehigen Erfindungen die einschlaegige patentrechtliche Judikatur herangezogen werden. Zur Sicherstellung einer harmonisierten Auslegung der gebrauchsmusterrechtlichen Schutzanforderungen nach den nationalen Rechtsvorschriften im Lichte des Europaeischen Patentuebereinkommens kann dabei auch auf die Rechtsprechung des Europaeischen Patentamts zurueckgegriffen werden (4 Ob 228/18k)." [16] 4 Ob 94/16a, "Verfahren zum Lesen und Schreiben von Daten" (OGH, 25. August 2016), http://pamt.at/1wh3.